Warum gerade Vietnam?
„Warum ein Auslandssemester in Europa, Australien oder Amerika verbringen, wenn es Länder auf der Welt gibt, die im Hinblick auf Deutschland gegensätzlicher nicht sein könnten?“
Im Dezember 2015 studierte ich bereits ein Semester im Masterstudiengang der Lebensmittel- und Bioprodukttechnologie an der Hochschule in Neubrandenburg, als sich ein Gedanke in meinem Kopf festsetzte - der Gedanke an die Ferne. Ich hatte im Studium bereits zahlreiche Eindrücke von der angepassten, stetig wachsenden Technologie und sich weiterentwickelnden Prozessen der Lebensmittelherstellung in Europa gewonnen, wollte aber auch wissen, wie es woanders auf der Welt abläuft. Welche Richtlinien und Gesetze gibt es und wie wird Lebensmitteltechnologie in anderen Ländern gelehrt? Welche Projekte stehen beispielsweise im südostasiatischen Raum im Vordergrund? Ich wollte mehr als nur die Eindrücke sammeln, die ich bisher hatte, und bemühte mich um einen Praktikumsplatz an der Hanoi University of Science and Technology in Vietnam.
„Warum gerade Vietnam?“ Das haben mich viele Leute vor, nach und während meines Abenteuers gefragt. Die Hochschule Neubrandenburg hat unter anderem eine Partnerschaft mit Hochschulen in Thailand und Vietnam. Ich informierte mich über die jeweiligen Universitäten und beschloss, mich auf der Basis meiner Rechercheergebnisse und einer Empfehlung durch einen vietnamesischen Austauschstudenten an der Universität in Hanoi zu bewerben. Doch all die typischen Vorbereitungen, die Vorfreude und Aufregung konnten mich nicht auf das vorbereiten, was ich dort in meiner Anfangszeit erlebt habe. Jedes Auslandssemester ist eine Herausforderung, doch schon die ersten Wochen in Hanoi brachten mich teilweise an meine Grenzen. Davon abgesehen, dass ich meine ersten Nächte auf reinen Holzbrettern ohne Matratze verbrachte, weil viele Vietnamesen höchstens im Winter ganz dünne Matratzen benutzen, waren die Ernährungsweise und auch die Kommunikation gewöhnungsbedürftig und stellten eine echte Herausforderung dar. Als Austauschstudentin ohne Vietnamesischkenntnisse, fühlte ich mich erst einmal sehr isoliert, da viele Vietnamesen sehr schüchtern und zurückhaltend sind. Sie zeigten zwar Interesse an mir und machten das auch mit Blicken und Gesten deutlich, jedoch haben viele Vietnamesen wenig Vertrauen in ihre recht mäßigen Englischkenntnisse und sprachen mich eher selten an. Deshalb erreichte ich auf den öffentlichen Lebensmittelmärkten, an Essensständen oder in Supermärkten oft nur wenig oder gar nichts mit meinem Englisch und war gezwungen, mit Händen und Füßen oder mit ein paar Brocken Vietnamesisch, die ich mir nach und nach angeeignet hatte, zu kommunizieren. Schwierig, aber auch interessant dabei ist, dass ich an vielen Streetfood-Ständen gar nicht wusste, was ich dort auf den Teller bekam. Somit musste ich einfach alles durchprobieren, wobei ich auch mal auf sehr außergewöhnliche Dinge traf, unter anderem Insekten oder Teile vom Tier, die man bei uns in Deutschland nicht gewohnt ist zu essen. Wem das zu extrem ist oder wer nicht experimentierfreudig ist, ist eher falsch in Vietnam.
Es gab neben den vielen kleinen Dingen, die ich im Alltag bewältigen musste und an die ich mich dann schnell gewöhnte, natürlich auch viele positive und sehr beeindruckende Erfahrungen, die ich aus Vietnam mitnehmen konnte. Zumal selbst der Umgang mit kleineren und größeren Problemen, so ganz auf sich allein gestellt, meinen Charakter nachhaltig geprägt hat. Die Landschaft, die freundlichen Menschen, die Kultur und das bunte Leben in Vietnam sind wirklich eine Reise wert. Ich war bereits vor meinem Auslandssemester in Vietnam als Urlauberin unterwegs. Als Tourist nimmt man jedoch keine vergleichbaren Eindrücke mit. An den Wochenenden habe ich selbst geplante Trips ins Umland und auch in einige Nachbarländer unternommen. Dabei habe ich versucht, das ursprüngliche Vietnam und Asien kennenzulernen und nicht das für die Touristen hergerichtete. Oft war ich auch mit einigen vietnamesischen Studierenden viel unterwegs und habe abends auf der Straße auf kleinen Plastikstühlchen (fast wie für kleine Kinder gemacht!), die das Straßenbild Hanois prägen, ein typisches Bia Ha Noi (Hanoi Bier) für nur umgerechnet 20 Cent getrunken oder eine Phở bò - die typische Rinderbrühe mit Reisnudeln - für nicht mal einen Euro gegessen.
Ich bin natürlich auch regelmäßig in die Universität gegangen und habe an meinem Projekt zur Herstellung eines Lychee-Brandys gearbeitet. Von den Dozenten dort und auch den Studierenden wurde ich so gut es ging unterstützt. Es ist aber ein Unterschied zu Hochschulen und Universitäten in Deutschland. Man darf nicht mit der Erwartung nach Vietnam gehen, dass man dort hochmoderne Labore und Gerätschaften vorfindet. Man muss viel improvisieren und sich auf die einfachen Dinge besinnen. Ich habe an dieser Stelle gelernt, dass die Hochschulen Deutschlands in den Methoden, etwas zu lehren und den Studenten das kritische Denken beizubringen, dem vietnamesischen Bildungssystem weit voraus sind. Ich habe jedoch auch eine Leidenschaft und eine Freude der vietnamesischen Studierenden an ihrem Studium entdeckt, eine Hingabe, wie ich sie noch nirgends in einer vergleichbaren Art gesehen habe.
Mein Projekt habe ich nach fünf Monaten erfolgreich abgeschlossen und für die Universität in Hanoi und auch in Neubrandenburg einen Abschlussbericht präsentiert. Nach fünf Monaten wieder nach Deutschland zu fliegen, war wirklich in mancherlei Hinsicht eine Erleichterung, aber auch heute denke ich noch über die vielen schönen Erlebnisse und die Menschen nach, die ich dort kennengelernt habe. Es wird mich immer wieder dahin zurückziehen, denn Vietnam ist ein beeindruckendes Land.
Ich kann es allen nur empfehlen, für ein paar Monate ins Ausland zu gehen. Es wird in jeder Hinsicht eine Bereicherung für euch sein.
Stephanie Labonté
Master Lebensmittel- und Bioprodukttechnologie